Faszination Faszien

Dr. Ida Rolf und ihre Methode der strukturellen Integration

Das Bindegewebe im Fokus moderner manueller Körpertherapie

 

Die Faszien, eine besondere Form des Bindegewebes, bilden primär Brücken zwischen den funktionellen Einheiten des Körpers. Als ein dreidimensionales Netzwerk schaffen sie innere Verbindungen vom Scheitel bis zur Sohle. Gleichzeitig gewährleisten sie die innere Gliederung, indem sie die einzelnen Bestandteile des Organismus umhüllen und so in ein Labyrinth von Schichten und Kammern unterteilen. Sie geben hiermit Muskeln, Organen, Knochen, Gehirn und Nervensystem Halt und Orientierung. Könnten wir mit einem Zauberstab aus einem menschlichen Körper alles entfernen und nur das Bindegewebe

zurücklassen, würden wir einen exakten, räumlich geordneten Körper mit seinen Organ- und Muskelformen vorfinden.

In der Geschichte der traditionellen Anatomie war es gerade das allgegenwärtige Bindegewebe, das die Anfertigung exakter Zeichnungen von Muskeln, Knochen und Organen verhinderte. Die Arbeit bestand darin, es möglichst „sauber“ zu beseitigen, um zu den noch heute gebräuchlichen anatomischen Bildern zu kommen. Das zusammenhängende räumliche und dreidimensionale Netz fiel dem Skalpell zum Opfer. Dabei spielt das Bindegewebe in vielerlei Hinsicht eine „tragende“ Rolle: Es besitzt, grob vereinfacht, sowohl plastische als auch elastische Eigenschaften und ist daher formbar. Dies lässt sich am Beispiel eines verstauchten Knöchels veranschaulichen: Mechanisch betrachtet wird der Körper an den überdehnten Stellen neues

Bindegewebe zur Stabilisierung aufbauen – meistens jedoch übertreibt er dabei, und die Beweglichkeit des Fußgelenkes bleibt eingeschränkt. Folgen für die Statik des gesamten Körpers und seine Bewegungsmöglichkeiten können sich überall im Organismus zeigen.

Dr. Ida Rolf erkannte und nutzte die plastische Eigenschaft des

Bindegewebes, das sie auch als „Organ der Form“ bezeichnete: Durch einfühlsame und regelrecht „schmelzende“, jedoch gleichzeitig Zielgerichtete Berührung – den „Rolfing Touch“ – lässt sich seine Elastizität und Gleitfähigkeit wiederherstellen und in solche Bahnen lenken, die von der Schwerkraft unterstützt werden.

 

Die Rolle der Schwerkraft

Durch die Einbeziehung der Schwerkraft erweiterte Ida Rolf das

traditionelle Bild der Körperstruktur, das den Körper nur innerhalb

seiner eigenen Grenzen untersuchte: Sie setzte den Körper in seiner Form und seinen Bewegungen in Beziehung zu seiner Umgebung – der Schwerkraft.

Inzwischen bewahrheitet sich – z.B. durch Erkenntnisse aus der

Raumfahrtmedizin – Dr. Rolfs Hypothese, dass die Schwerkraft als

organisierendes Element für Körperstruktur und Bewegungskoordination,

für räumliche Wahrnehmung und sogar für menschlichen Ausdruck von entscheidender Bedeutung ist. Forschungen haben auch gezeigt, dass Spannungsmuster von den großen Muskelfaszien über das Bindegewebe bis ins Innere einer Zelle auf das Zellskelett und den Zellkern einwirken können: Je nach Druck oder Zugkraft „entscheidet“ sich beispielsweise eine Zelle für die Zellteilung oder das Zellsterben. Was bisher tägliche Erfahrung von Rolfern war – die spürbaren Veränderungen der Gewebequalität –, hat dank neuerer Untersuchungsmethoden in der Anatomie und Physiologie eine wissenschaftliche Basis erhalten. Heute ist bekannt, dass die Zellen des gesamten  Fasziennetzes an ihrer Oberfläche Rezeptoren tragen, die der Wahrnehmung verschiedener Druck- und Zugkräfte dienen. Diese zellulären Empfangs- und Sendestationen für Informationen stehen in enger Kommunikation mit dem autonomen Nervensystem, das wiederum Einfluss auf die Eigenspannung der Faszien nehmen kann und so auf den Rolfing Touch antwortet. Jede Intervention im Fasziensystem findet daher ihre Resonanz auch im autonomen Nervensystem. Somit stellt unser Fasziensystem eine grundlegende Matrix für Selbstwahrnehmung

und im weitesten Sinne für Wohlbefinden dar.

 

Strukturelle Integration

Dr. Rolfs Methode der Strukturellen Integration basiert auf beiden

Aspekten: dem der Bedeutung des Bindegewebes als Organ der Form mit seiner immanenten Plastizität und dem der Wirkung der Schwerkraft als konstante Größe, die die Körperstruktur und Bewegungsmöglichkeiten beeinflusst. Ihre eingehende Beschäftigung mit Yoga und der traditionellen Osteopathie und die intensive Auseinandersetzung mit Zeitgenossen wie Moshe Feldenkrais, F.M. Alexander und Fritz Pearls, dem Begründer der Gestalttherapie, beeinflussten sie bei der Entwicklung der klassischen Zehner-Behandlungsserie im Rolfing.

Die ersten Schüler von Dr. Rolf besaßen eine medizinische Ausbildung und orientierten sich vornehmlich an der strukturellen Pathologie. Als deutlich wurde, dass ihre Methode auch als Ansatz zur Gesundheitsvorsorge und zur persönlichen Entwicklung zu verstehen war, begann Ida Rolf Menschen zu unterrichten, die Interesse an ihren Konzepten zeigten und bereit waren, sich auf eine engagierte und tiefe Arbeit mit anderen einzulassen.

Wie so häufig gerade in der wissenschaftlichen Welt, war auch Dr.

Ida Rolf (1896 – 1979) ihrer Zeit pionierhaft voraus, als sie den maßgeblichen Zusammenhang zwischen der Schwerkraft und einem harmonisch arbeitenden Bewegungsapparat des Menschen neu formulierte und das Bindegewebe in den Mittelpunkt ihres Therapieansatzes stellte. Dazu kam eine frühe kreative Verbindung psychotherapeutischer Erkenntnisse mit dieser neuen Körpertherapie, die das „Rolfing“, wie sich die Methode schon bald nach ihrer Urheberin benannte, zu seinen ungewöhnlichen Erfolgen führte. Bei Rolfing geht es um ausgewogene Balance der Körperstatik und effektivere, störungsfreie Bewegung. Rolfing hat das Ziel, dem Körper seine individuelle Idealform und –bewegung zurückzugeben oder – besser noch – zu erhalten. Dazu gehören eine aufrechte Haltung, bewegliche Gelenke, fließende Bewegungen und befreites Atmen. In einer Rolfing-Sitzung wird mit gezieltem manuellem Druck das Bindegewebe umgeformt. Der Körper wird dabei aufgerichtet und ins Gleichgewicht gebracht. Das Ziel ist eine gelöste, aufrechte Haltung, leichte Bewegung und eine freiere Atmung. Ganz im Kontext des heutigen Gesundheits-Verständnisses versteht sich Rolfing im Besonderen auch als vorbeugender Begleiter bei der Erhaltung von ganzheitlichem Wohlbefinden und gesteigerter Lebensqualität.